[#naraontour] Bericht 19.03.16

In den ersten beiden Tagen konnten wir uns durch Gespräche mit Flüchtenden im Camp Idomeni selbst, aber auch durch einen Infoaustausch mit weiteren Aktivist*innen im Volunteershaus einen Überblick über akute Probleme vor Ort verschaffen. Bereits vor Beginn der Tour hatten wir uns darauf verständigt, dass wir dabei helfen wollten, Informationen zusammenzutragen, um sie fliehenden Menschen zur Verfügung zu stellen – wenn sie diese nicht schon längst haben.Route
Im Haus erfuhren wir von örtlichen Infostrukturen und bauten Kontakt zu Aktivist*innen von „welcome2europe“ auf, was sich als sehr günstig erwies, da diese ohnehin gerade an einem neuen Flyer arbeiteten und wir uns sinnvoll einbringen konnten. Zu Recherchezwecken verabredeten wir, dass wir uns die GPS-Koordinaten der Militärcamps, die von offizieller Seite als Alternative zu Idomeni und Polikastro angepriesen werden, besorgen würden. In einem Gespräch mit einem Menschen in Idomeni hörten wir von einem Camp nahe Athen, in dem die Missstände besonders dramatisch seien. U.a. dürften die Leute das Camp zu bestimmten Zeiten nicht verlassen bzw. betreten. Wir blieben mit ihm in Kontakt, weil er einen Freund von sich, der in eben diesem Camp untergebracht ist, für uns kontaktieren wollte, aber auch, weil sich der Austausch mit Betroffenen immer wieder als sehr interessant erweist.

Nea Kavala1-webAm 17.03.16 machten wir uns dann auf den Weg: Zusammen mit zwei weiteren Menschen aus dem Volunteershaus besuchten wir zuerst das Camp in Nea Kavala unweit von Idomeni. Schnell wurde deutlich, was es für refugees bedeutet, in solchen Camps wohnen zu müssen: UNHCR-Zelte, die im Matsch versinken, andere Zelte, die aber ebenso keine Böden haben und daher keinen Schutz gegen die Feuchtigkeit bieten.  Eine lediglich rudimentäre Versorgung mit Essen, d.h. dass es zwar wie in allen Camps dreimal täglichNea Kavala2-web Essen gibt, die Rationen allerdings laut Aussagen der dort lebenden Menschen nicht ausreichen, um alle zu versorgen. Eine Kleiderausgabe, die nur für eine kurze Zeit am Tag öffnet, so dass viele in ihren nassen Klamotten ausharren müssen. Kein Zutritt zum Camp für Außenstehende, was durch einen Zaun sowie Polizei und Militär am Eingang gewährleistet wird.
Unsere nächste Station war Cherso, ein Ort im Länderdreieck Mazedonien, Bulgarien und Griechenland. Das Camp Cherso liegt auf einem Hügel am Ortsrand des 4500 Seelen-Dorfes und befindet sich derzeit noch im Aufbau, die Arbeiten am Zaun sind allerdings schon in vollem Gange. Es sieht so aus, als würde ein ca. 2,50 Meter hoher Zaun ums Camp gezogen werden, der zusätzlich mit Stacheldraht bestückt ist. Als wir ankamen, trafen wir viele Menschen auf der Wiese rund ums Camp, die teils mit kaltem Wasser ihre Wäsche wuschen oder versuchten, in der Sonne ihre nassen Kleidungsstücke zu trocknen.

Aber auch einige Cherso1-webKindergruppen hielten sich auf der Wiese auf, mit einer von ihnen kamen wir ins Gespräch und wurden eingeladen, auf ihrer Decke Platz zu nehmen. Die drei Geschwister und ihre Freundin berichteten uns – mit einigen Wörtern Englisch und Französisch – von ihrem Leben auf der Flucht und im Camp. Wir sprachen aber auch über witzige Sachen und erzählten von uns. Die Kinder wohnen mit ihren Familien im Camp, welche sie uns vorstellen wollten. Auch hier ist es „Unbeteiligten“ verboten, das Camp zu betreten, die Militärpatrouille aber war gerade nicht zu sehen. Cherso3-webWir trafen also den Vater der Geschwister und wurden direkt eingeladen, uns mit ihnen hinzusetzen und Tee zu trinken. Wir befanden uns alle mitten im Matsch vor einem offenen jurtenähnlichen Zelt, in dem die Mutter der Kinder sich ausruhte. Sie befindet sich kurz vor dem Geburtstermin ihres fünften Kindes, welches sie vermutlich in den nächsten Wochen auf einer durchnässten Pappe zur Welt bringen wird. Eine weitere Person im Camp berichtete uns von ihrem vier Monate altem Kind, welches stark erkältet sei und zugeschwollene Augen hätte. Sie hat es einem Arzt vorgestellt, welcher lediglich meinte, dass er nichts weiter tun könne. Auch der Familienvater wusste nicht, wie er seine Frau unterstützen sollte.
Während unserer Anwesenheit kamen einige Kinder mit Plastikschalen voll trockener Nudeln und einem Stück Fleisch. Dies sei das reguläre Essen, anscheinend gibt es auch hier wieder keine Vitamine. Die Babys müssten doch gestillt werden, spezielle Nahrung aber gebe es nicht, so der Familienvater. Wir trafen noch weitere Menschen, die alle von den unmenschlichen Zuständen berichteten. Es gibt weder Duschen noch warmes Wasser, die Waschgelegenheit beschränkt sich auf zwei Wasserschläuche. Cherso2-web
Gerade angesichts all der schlimmen Dingen, die wir hier sahen, war die Gastfreundlichkeit der Flüchtenden überwältigend. Wir konnten mit ihnen gemeinsam lachen und durften selbstgebaute Käscher bewundern, aber auch einen selbstgebauten Ofen. Zum Abschluss wurden noch Fotos gewünscht, welche wir verfremdet veröffentlichen dürfen.
Letztlich nahmen wir aus den Gesprächen abermals mit, dass die Menschen dringend Infos zur Situation an den Grenzen und zur EU-Politik wünschen. Wir hinterließen hier – wie überall anders auch – das Versprechen, wieder zu kommen und Flyer auf den jeweiligen Sprachen mitzubringen, damit die Cherso4-webLeute ihre Rechte, z.B. im Relocationprogramm, kennen und einfordern können. Dies wird ihnen dadurch erschwert, dass sie in den Camps kein Internet haben, weil es keine WLAN-Hotspots gibt.

Auch wegen der Berichte über die katastrophalen Zustände in den Militärcamps hat das DRK gestern angekündigt, eine mobile Gesundheitsstation nach Griechenland zu entsenden, die auf die Standorte Nea Kavala und Cherso aufgeteilt werden soll. Ob MSF dort vor Ort ist, konnten wir noch nicht herausfinden.

Weiter ging es Richtung Thessaloniki. Nach einigen gescheiterten Versuchen, das Camp im Industriegebiet vor der Stadt zu finden, fuhren wir doch dann erst einmal zum Squat Orfanotrofio und nutzen den WLAN-Hotspot im anliegenden Café, das wir schon von unserer letzten Tour im Januar kannten. Dort konnten mit Unterstützung aus Deutschland alle weiteren Adressen und GPS-Koordinaten recherchiert werden, so dass wir dann nach Einbruch der Dunkelheit endlich im Camp in Diavata eintrafen. Hier sind ca. 1900 Menschen untergebracht, was sogar die Einwohner_Innenzahl von Diavata, die bei etwa 1100 liegt, übersteigt. Im Februar brachten 40 Busse viele Flüchtende, die zuvor an der griechisch-mazedonischen Grenze ausgeharrt hatten, in dieses Auffanglager. Auch hier wieder ein Militäraufgebot sowie Polizei im Eingangsbereich. In einer Seitenstraße sind wir jedoch mit Leuten im Camp ins Gespräch gekommen, die berichteten, dass hier die meisten Menschen in containerartigen Bauten zu sechst wohnen. Alles weitere schien sich mit dem zu decken, was wir bereits in den anderen Camps gehört und gesehen hatten. Insgesamt wirkte die Situation dort aber entspannter, wenn mensch von dem Internierungslager-setting absieht. In Diavata kam jedoch nicht nur das Camp wie ein lebensfeindlicher Ort rüber, sondern auch die Umgebung, da sich das Camp in einem heruntergekommenen Industriegebiet zwischen Baracken und in Sicht- und Riechweite einer Ölraffinerie befindet.

Da lange Zeit an der Grenze abgewiesene Flüchtende wieder nach Athen gebracht wurden, wollten wir unbedingt in die Hauptstadt fahren, um die Standards in den dortigen Camps zu dokumentieren.

Das Hockeystadion ist ein verlassener Gebäudeteil des für die Olympischen Spiele 2001 errichteten Olympiakomplexes im Vorort Helliniko im Süden der Hauptstadt. Das Camp öffnete im September 2015, um diejenigen Flüchtlinge unterzubringen, die zuvor in einer anderen Sporthalle übernachten mussten, und hat eine Maximalkapazität zur Unterbringung von 500 Personen. Laut Aussagen der dort untergebrachten Personen wird diese Zahl aber deutlich überstiegen! Hier müssen Flüchtende unter heftigen Bedingungen leben: Sie sind alle in einer großen Halle untergebracht und schlafen dort in Zelten auf dem kalten und harten Steinboden, wodurch ältere Menschen über starke körperliche Schmerzen klagen. Kalte Duschen und Dixieklos sind vorhanden, allerdings auch hier viel zu wenige für die vielen Menschen. Besonders problematisch ist dort neben der fehlenden Privatsphäre die schlecht organisierte Essensausgabe, die – abgesehen von der Tatsache, dass sie direkt neben den Toiletten stattfindet und die Leute beim Schlange stehen dem Regen ausgesetzt sind – so langsam von statten geht, dass nach Ende einer Essensausgabe bereits die nächste wieder beginnt.

Hockeystadion-webHockeystadion2-web
Auch in diesem Camp haben die Flüchtenden keinen Zugang zu Informationen über Handlungsperspektiven und die Situation an der Grenze, ebenso waren die hier erhältlichen Informationen über das offizielle Relocationsprogramm unzureichend. Zwar gibt es wohl täglich Sprechstunden von Ärzt_Innen, die dann jeweils aber nur kurz im Camp sind. Neben der Polizei war während unseres Besuchs auch die Marine anwesend. Wir sprachen auch hier mit Menschen, die teils in der Essensausgabe warteten und daher genug Zeit hatten, uns ihre Geschichten zu erzählen. Um ihnen einen Überblick über die verschiedenen Informationen zu geben, verwiesen wir auf die Homepage von w2eu.net, welche die Leute auch weiterempfehlen wollten.

Am westlichen Stadtrand von Athen gelegen, befindet sich das Camp Eleonas mitten in einem verfallenem Industriegebiet, direkt neben einer Roma-Siedlung. Die Roma-Siedlung ist ein umzäunter matschiger Platz, auf dem notdürftig Hütten aus Müll zusammengebastelt wurden. Lebensfeindlichere Bedingungen sind wahrscheinlich nur noch in Kriegsgebieten zu finden. Von dem am 16. August 2015 eröffneten Camp, das aber immer noch einen besseren Ruf hat als die im Hockey- oder Taekwondo-Stadion, konnten wir nur feste Isoboxen und Essens- sowie Spielzelte sehen. Direkt am Eingang gab es einen Infopoint, an wir aufgehalten wurden. Der Zugang ist nur nach vorheriger Anmeldung und nach Erteilung einer Erlaubnis möglich.
Neben dem Eingangstor vorne, das für die Flüchtenden aber zumindest tagsüber offen steht, gibt es keine anderen Möglichkeiten ins Camp zu kommen, da es von einer Mauer „geschützt“ wird. Hier sahen wir nur die Polizei, kein Militär. Die NGO „Save the children“ war zumindest mit einem Auto vor Ort. Es gelang uns leider nicht, Menschen zu treffen, mit denen wir auf Englisch hätten kommunizieren können.

Schisto-webNach längerem Suchen erreichten wir schließlich auch das Militärcamp Schisto. Das Camp befindet sich auf einem Berg inmitten von Containerfriedhöfen und Firmen. Große Laster donnern den ganzen Tag an mehreren Seiten am Camp vorbei, um zur Schnellstraße zu gelangen. Schisto ist ein neu aufgebautes „Verteilungszentrum“, das aber bereits im Februar überfüllt war. Wir trafen eine Gruppe von Leuten etwa unseres Alters, aber auch einen 17jährigen Jugendlichen. Einer aus der Gruppe sprach fließend Englisch und erzählte viel von der Situation im komplett abgeriegelten Camp. Dort hätten fast alle die Krätze, weil es völlig überfüllt und die hygienischen Zustände entsprechend schlecht seien. Es gäbe sogar Quarantänebereiche! Das Camp ist umgeben von Stacheldraht und einem hohen Zaun, versehen mit einem Sichtschutz, der aber teilweise von den Menschen eingerissen wurde. Vor der Tür stand wieder Militär, das – ähnlich wie in deutschen Lagern – eine Art „Hausausweis“ der Leute beim Betreten und Verlassen des Camps kontrolliert. Fotos sind explizit verboten, so mussten auch wir irgendwann die Kamera einpacken, als jemand vom Militär neben uns anhielt…
Eine Person aus der Gruppe, mit der wir sprachen, bestätigte das Gerücht, das der Mensch in Idomeni wiedergegeben hatte und demzufolge das Tor ab 22 Uhr geschlossen werde. Er selbst erreichte das Camp abends nach Torschluss und musste die Nacht im Freien und in seinen durchnässten Klamotten verbringen. Zudem zeigte er uns Stellen an seinen Händen, die aus der Mangelernährung resultieren, und betonte, dass fast alle im Camp darunter litten. Außerdem erzählte er uns noch sehr interessante persönliche Sachen: Als er auf Chios ankam, wollte er zunächst dort bleiben, um beim Übersetzen zwischen neu ankommenden Leuten und Volunteers sowie NGOs zu helfen. Er erklärte, dass er zwar nicht mehr besitze als sein Leben, dieses aber trotzdem teilen und anderen Unterstützung bieten könne! Wir erzählten ihm von der Arbeit an der Grenze, so dass er schon überlegt, vielleicht demnächst dort mitzuarbeiten. Auch andere Leute aus der Gruppe berichteten von ihren Erfahrungen im Iran und Afghanistan, zeigten Narben von Misshandlungen seitens staatlicher Behörden. Einer von ihnen meinte, dass er im sogenannten „Dschungel“ vier Tage allein ausgeharrt hätte, weil die mazedonische Polizei und Armee überall patrouillierten. Letztlich haben sie ihn doch gefasst und über Skopje zurück nach Griechenland gepusht. Er meinte, dass der „illegale“ Weg durch die Balkanstaaten schon jetzt kaum zu schaffen sei, erst recht nicht für Familien mit Kindern. Die Abschiebungen in die Türkei kämen Abschiebungen ins Kriegsgebiet gleich, weil dort Fliehende völlig rechtlos seien und genauso wie im Iran Demo Athen-webbehandelt werden würden. Er wollte wissen, wie die Stimmung in Deutschland sei und erwartete mit Spannung die Ergebnisse der EU-Konferenz, hatte aber auch schon von den Befürchtungen vieler Aktivist_Innen und den internationalen Aktionstagen gehört. Da wir ohnehin in Athen waren, nahmen wir dann auch an der im Rahmen des Tags gegen Rassismus organisierten Demonstration durch die Hauptstadt teil.

Während des Schreibens dieses Berichtes lesen wir parallel gerade die ersten Ergebnisse der EU-Konferenz: der erweiterte Frontex-Einsatz und die Forderung an die griechische Regierung, die Grenzen besser zu „sichern“, damit weniger Menschen die Inseln und das festland erreichen. Die Politik der Abschottung wird immer weiter voran getrieben – Griechenland wird der Ausschluss aus dem Schengen-Raum angedroht, wenn sie nicht mehr Menschen davon abhalten, in die EU einzureisen. Das humanitäre Banner, das insbesondere die deutsche Regierung gerne vor sich herträgt, wird angesichts wirtschaftlicher Interessen schnell weggeworfen. Dafür wird auch Krankheit und Tod tausender Menschen in Kaufgenommen.

In diesem Sinne:

Organisiert Proteste gegen die menschenverachtende EU-Politik +++ Reißt die Grenzen nieder, auch von Deutschland aus +++ Lasst die Betroffenen nicht alleine +++ Wir alle tragen die Verantwortung für die Situation hier und überall +++ Für die globale Bewegungsfreiheit aller Menschen +++