[KI] Transit-Geflüchtete in Kiel

Bericht des „nara – netzwerk antirassistische aktion kiel“ über die Ereignisse in Kiel in der letzten Woche (13.09. bis 20.09.2015):

Seit über einer Woche Unterstützung von über tausend Geflüchteten auf Reise von Kiel nach Göteborg (Schweden) mit Versorgung und Fährtickets +++ Massive Kritik an Staat, Land Schleswig-Holstein, Stadt Kiel und Polizei +++ Forderung nach Unterstützung Geflüchteter, Bekämpfen von Fluchtursachen und einem Ende von Fortress Europe

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Protest im Rathaus Kiel am 15.09.15

Momentane Situation
Aktuell kommen hunderte Geflüchtete mit Zügen nach Kiel um vom Schwedenkai in Kiel die tägliche Stena Line Fähre nach Göteborg in Schweden zu nehmen um dort Asyl zu beantragen oder weiter nach Finnland, Norwegen zu reisen. Durch die rigorose und repressive Politik Dänemarks ist die Durchreise durch Dänemark nach Schweden gar nicht oder nur teilweise und unter Risiko möglich. Die Geflüchteten halten sich meist den ganzen Tag im Stena Line Terminal auf, in dem von Unterstützer*innen aus verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen ein Info Punkt, Essensversorgung und teilweise medizinische Versorgung eingerichtet wurde. Es werden Spenden gesammelt um Menschen, die kein Geld( mehr) haben Fährtickets zu finanzieren. Die Unterstützung von städtischer Seite ist absolut mangelhaft, es fehlen ausreichende Unterkünfte und Versorgung. Die Polizei ist dauerhaft präsent und reagiert zunehmend repressiv auf die unterstützenden Strukturen.

Ereignisse der letzten Woche:

Sonntag, 13.09.2015
Am Sonntag, 13.09.2015, kam es das erste Mal zu der Situation am Schwedenkai in Kiel, dass über 250 Flüchtlinge keine Fährtickets für die „Stena Line“ Fähre nach Göteborg bekommen konnten. Hier musste in Eigeninitiative Schlafplätze und Essensversorgung durch selbstorganisierte Menschen sichergestellt werden – 130 Menschen mussten in der Alten Muthesius Kunsthochschule übernachten, 150 weitere konnten auf dem Gelände der Erstaufnahme Nordmarksportfeld schlafen.

Montag, 13.09.2015 und Dienstag, 14.09.2015
Am Montag wurden durch Stena Line und Polizei kurzfristig noch Plätze auf der Fähre freigegeben und alle 250 Menschen, die abends im Terminal waren, konnten die Fähre nach Schweden nehmen.

In der Nacht von Montag auf Dienstag kamen um ca. 1.00 Uhr nachts etwa 130 Menschen im Kieler Hauptbahnhof an. Nachdem die Nutzung der Alten Muthesius Kunsthochschule als Unterkunft untersagt worden war, wurde trotz Zusicherung des Oberbürgermeisters Ulf Kämpfer am Nachmittag, keinerlei Unterstützung erbracht. Die örtliche Bundespolizei war nicht über die Ankunft informiert. Unabhängig organisierte informierte Menschen fanden sich noch vor Ankunft des Zuges am Bahnhof ein und organisierten innerhalb kürzester Zeit Decken, Isomatten sowie Essen und Trinken. Während privat und ehrenamtliche Menschen innerhalb kürzester Zeit eine Unterstützung auf die Beine stellten, zogen sich die Beamten der deutschen Bundespolizei laut eigener Angabe nach Absprache mit der Landeskoordinationsstelle für Flüchtlinge in ihre Wache zurück mit der Anweisung „Wir machen hier nichts mehr“. Die Menschen mussten im Bahnhof und in der dortigen Sparda Bank übernachten.

Erst durch eine Aktion und Spontandemonstration vor und im Kieler Rathaus mit ca. 200 Menschen am Dienstag, 15.09.2015, und öffentlichen Druck mithilfe der Presse konnte eine Bereitstellung einer Notunterkunft für ca. 200 Personen von täglich 19.00 bis 9.00 Uhr am Kieler Ostsee Terminal durch die Stadt durchgesetzt werden, dies galt allerdings nur bis zum vergangenen Freitag.

Mittwoch, 15.09.2015 und Donnerstag
Am Mittwochmorgen kam es im Terminal zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen 3 betrunkenen Nazis/Hools und der Polizei, nachdem diese ins Terminal eingedrungen waren und die Geflüchteten beschimpften und daran hindern wollten auf die Fähre zu kommen.

Gemeinsame Absprachen werden trotz Verprechungen seitens der Stadt weiter nicht eingehalten. Nach wie vor scheint es für die Stadt hoch problematisch, medizinische Versorgung, ausreichend Essen und Unterkunft zu organisieren (die Unterkunft im Ostseekai war völlig überbelegt, Menschen mussten auf dem Boden sitzen), auch die nächtlichen Transporte vom Bahnhof zum Ostseekai werden weithin von Freiwilligen organisiert. Auch eine finanzielle Unterstützung für die Unterstützung und zur Finanzierung von Fährtickets bleibt bisher aus.

Stattdessen drängt die Stadt die UnterstützerInnen aus der Infrastruktur. Die von der Kieler Flüchtlingsinitiative sichergestellte Verpflegung im Stena Terminal wurde von der Stena Line untersagt. Auch die Verteilung von Hygieneartikeln, Decken und Klamotten wurde von der Stena Line verboten. Auch von städtischer Seite erfolgt diese entweder völlig mangelhaft oder fehlt komplett. So bekamen Geflüchtete an diesem Donnerstag kein Frühstück und nur etwas Suppe für den gesamten Tag. Das wurde von Stadt und Polizist*innen kommentiert mit: „Wer auf der Flucht ist, dem reicht eine Suppe am Tag“ „Frühstück und bisschen Suppe am Abend müssen erreichen“ „Wenn die Unterkunft voll ist, dann ist sie voll“

Obwohl die Lage an anderen Orten, wie zum Beispiel am Terminal in Sassnitz, die ebenfalls von der Fährlinie bedient werden, wesentlich entspannter ist, hat sich die Stadt heute aus unerklärlichen Gründen dagegen entschieden, den Transfer dorthin zu organisieren. Stattdessen werden immer wieder hunderte Geflüchtete durch Ansagen der Polizei dazu bewegt sich in Züge nach Rostock, Lübeck zu setzen, weil da angeblich „noch Platz sei“. Dies sind falsche Informationen um die Menschen kurzfristig loszuwerden. Wir stehen mit diesen Städten in Kontakt und die Fährplätze und Unterkünfte sind genauso oder noch voller als in Kiel. Zeitweise wurden von der Polizei Tickets für die Fähre von Sassnitz nach Schweden verkauft und Menschen einfach losgeschickt.

Donnerstag, 17.09.2015
Am Donnerstag, den 17.09.2015, haben ca. 70 Menschen in der Kieler Ratsversammlung gegen die leeren Versprechungen der Stadt protestiert und eine Erklärung verlesen (siehe unten). Eine Anfrage seitens unserer Initiative nach Redezeit wurde seitens der Stadt abgelehnt. Dies ist für uns absolut inakzeptabel. Da wir seit Tagen die Versorgung der geflüchteten Menschen übernehmen und mittlerweile an das Limit unsere Kapazitäten stoßen, sahen wir es heute als notwendig auch ohne offizieller Genehmigung Gehör zu verschaffen. Wir haben eine Erklärung verlesen, Transparente hochgehalten und Flyer verteilt. Daraufhin wurde die Ratssitzung unterbrochen, der Saal von einem massiven Polizeiaufgebot geräumt und den Unterstützerinnen der Initiative Hausverbot ausgesprochen.

Freitag, 18.09.2015
Am Freitag, den 18.09.2015 wurde daraufhin eine Notunterkunft in der alten Kieler Markthalle eingerichtet, diese reicht allerdings nicht aus, woraufhin das Ostseekai-Terminal als zweite Unterkunft wieder eingerichtet wurde. Die Menschen durften zeitweise keine Tickets mehr kaufen und das Stena Line Terminal nicht mehr betreten. Sie werden völlig unzureichend versorgt, es fehlt an Essen, Dolmetscher*innen und Schlafplätzen.

Zeitgleich wurden die Nutzer*innen der Alten Muthesius Kunsthochschule vonseiten der Stadt unter Androhung der Räumung und einem Ende des Projekts unter Druck gesetzt und dazu aufgefordert sich von dem Protest im Rathaus und der Unterstützung zu distanzieren und zu entsolidarisieren.

Samstag, 19.09.2015
Durch das Fussballspiel Hansa Rostock gegen Holstein Kiel in Kiel war die Situation am Hauptbahnhof den ganzen Tag angespannt, oftmals wurde Geflüchteten in Hamburg geraten die Züge nach Kiel nicht zu besteigen.

Sonntag, 20.09.2015
Momentan existieren zwei „Notunterkünfte“ für Geflüchtete im Ostseekai und in der Markthalle. Die Menschen werden völlig unzureichend versorgt, es fehlt an Essen, Dolmetscher*innen und Schlafplätzen, was alles von unserem Netzwerk und vielen Einzelpersonen gestellt wird.

Gleichzeitig hat die Stadt Kiel am Sonntag über die sozialen Netzwerke dazu aufgerufen Geflüchtete privat unterzubringen weil die Kapazitäten in Markthalle und Ostseekai nicht reichen würden.

Großspurig betont OB Kämpfer im Interview mit der KN auf die Frage: Gibt es genügend Feldbetten und Verpflegung? „Ja, da hat die Stadt keine Engpässe. Für das, was wir anbieten wollen, haben wir genügend Ressourcen.“

Das ist eine Lüge! Die Aktivist_innen müssen die Verpflegung für die Geflüchteten fast vollständig organisieren und auch der Ostseekai ist mehr ein Deckenlager als eine angemessene Unterkunft.

Wir haben die Schnauze voll
Wir bewerten dieses Verhalten als absolut inakzeptabel. Während sich Vertreter_innen der deutschen Politik im Scheinwerferlicht von Medien und Öffentlichkeit für eine deutsche Willkommenskultur loben, sieht die Realität meist ganz anders aus. Deutschland trägt als drittgrößter Waffenexporteur und mit seiner geopolitischen Machtpolitik einen wesentlichen Teil zu den Krisen der Welt und den vielfältigen Ursachen für Flucht bei.

Nun aber ist es anscheinend nicht möglich eine humanitäre Grundversorgung mit Decken, Verpflegung, sanitären Anlagen oder gar medizinische Versorgung für Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Elend aus ihrer Heimat flüchten müssen, zur Verfügung zu stellen. Stattdessen müssen diese Menschen – geplagt von Strapazen monatelanger Flucht – in der Kälte der Kieler Bahnhofshalle übernachten.

Auch am Dienstagmorgen standen die Beamten der Bundespolizei untätig und lediglich mit ihren privaten Fotohandys am Bahnhof und machten Fotos davon, wie die nächtliche Notunterkunft im Bahnhof von Helfer_innen aufgeräumt wurde.

Während innerhalb kürzester Zeit Milliarden Euro für die Rettung von Banken aufgetrieben werden kann ist es seit Tagen weder von städtischer Seite noch von Seiten des Landes möglich dringend benötigte finanzielle Mittel für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Seit Tagen werden in Eigeninitiative Fährtickets für die Überfahrt nach Schweden für Flüchtlinge aus privaten Spenden finanziert. Die eigentlichen politischen Verantwortlichen weisen auf Nachfragen von Initiativen ihre Verantwortung stets von sich und verweisen auf andere Zuständigkeiten.

In unseren Augen ist die momentane Situation nicht durch eine Überforderung sondern durch Nicht-Initiative von Stadt und Land entstanden. Uns erschließt sich nicht, warum die Stadt Kiel, die über wesentlich bessere Mittel und Infrastruktur wie Zelte und Sanitäranlagen verfügt, diese nicht zur Verfügung stellt, sondern kaum Interesse an der momentanen Lage zeigt.

Für uns ist es in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar wieso im gleichen Zuge die deutsche Bundesregierung von Überforderung spricht und dies argumentativ dafür benutzt die Grenzen zu schließen. Während das krisengebeutelte Griechenland droht unter der momentanen Situation zu kollabieren, ist dies fern ab von einer fairen und solidarischen EU-Flüchtlingspolitik.

Diese Politik ist zynisch und unmenschlich gegenüber den Geflüchteten. Und es ist auch ein Schlag ins Gesicht für alle jene Menschen, die sich in den letzten Wochen und Tagen selbstorganisiert für die Unterstützung und solidarische Aufnahme engagiert haben. Vor allem anderen stiehlt sich Bundesrepublik Deutschland damit aus ihrer Verantwortung, für eine Situation die sie mit ihrer mörderischen Politik Jahrzehnte lang verursacht hat.

Wir werden uns dagegen mit aller Kraft wehren.

Die Bewegung der Geflüchteten wird sich auch durch neue Abschottungsmaßnahmen nicht aufhalten lassen und wir werden unsere Anstrengungen zur Unterstützung des Transits fortsetzen!

Die Grenzen der Festung Europa nach innen und nach außen müssen jetzt endlich fallen. Mit dem tausendfachen Sterben im Mittelmeer muss ebenso Schluss sein, wie mit dem Bau von Zäunen oder der Erfindung von immer mehr angeblich sicheren Herkunftsländern.

Stattdessen müssen Stadt und Land endlich aktiv werden und bestehende Strukturen Logistisch und finanziell unterstützen.

Gleichzeitig muss es massenhafte Proteste gegen die deutsche und europäische Machtpolitik und die wirtschaftliche Ausbeutung von Ländern geben. Wir fordern freie Fahrt für Flüchtlinge!!

Freedom of Movement is everybodies right!

No Border No Nation! Fuck Frontex!

 

Pressespiegel:

Kieler Nachrichten

Sonstige

 

Spendenaufruf:

Insgesamt haben mit der Unterstützung des Netzwerks bereits deutlich mehr als 1000 Menschen via Kiel den Weg nach Schweden gefunden.

In den letzten Tagen wurden tausende Euro aus Privatspenden aufgewendet um Menschen Tickets zu finanzieren, die nach ihrer langen Reise ohne finanzielle Mittel in Kiel landeten. Wir möchten alle Menschen, die Flüchtlinge bei ihrer Reise unterstützen wollen, um Spenden bitten und auffordern sich selbstorganisiert für Flüchtlinge einzusetzen. Kommt zum täglichen Plenum in der Alten Muthesius Kunsthochschule in Kiel um 19.30 Uhr und übernehmt eine Schicht!

Das Netzwerk antirassistische Aktion Kiel (Nara) bittet um Spenden an den Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.:

Spendenkonto: IBAN: DE52 5206 0410 0006 4289 08 BIC: GENODEF1EK1 Evangelische Bank

 

Kontakt

Facebook: nara – netzwerk antirassistische arbeit kiel
Internetseite: www.antiravernetzungsh.noblogs.org/
Pressekontakt: Martin Weiß, 0151 657 301 39